Seitdem das Schlagwort „Gamification“ vor rund 20 Jahren auftauchte, hat sich das Phänomen rasant ausgebreitet. Mit der Gaming-Kultur ist Spielen ins Zentrum unserer digitalen Gesellschaft gerückt, auch in Werbung und Marketing. Aber nicht nur im digitalen, sondern auch im analogen Bereich erleben Spiele eine Blüte. Dabei meint Gamification mehr als mit Logo individualisierte Brett- oder Kartenspiele. Vielmehr geht es um einen kommunikativen Prozess durch Mittel des Spiels, bei dem nicht zuletzt auch das Bedürfnis nach haptischen Erlebnissen befriedigt wird, wie zahlreiche Beispiele zeigen.
Plötzlich war sie da: die Möglichkeit, ein echtes Kunstwerk zu stehlen. Die acht originalen Werke wurden allerdings genau für diesen Zweck von den Künstler:innen gemalt. Sie waren Material für ein elaboriertes Spiel, mit dem Netflix den Actionfilm Red Notice über einen Kunstraub bewarb. So verwandelten sich mehrere deutsche Städte im November 2021 in eine Spielwelt, in der die Teilnehmenden die Rolle von Kunstdieb:innen spielten und versuchten, die über alle Kanäle hinweg gestreuten Hinweise zu entschlüsseln, um die Gemälde zu finden.
Die Marketingkampagne zu Red Notice insgesamt ein hochskaliertes Game, das die Zielgruppe crossmedial aktiviert, aber die realen, haptisch fassbaren Kunstwerke mit ihrer Präsenz im physischen Raum setzen dem Ganzen die Krone auf. Gamification at its best.
Gamification analog
Wenn über Gamification und ihre Möglichkeiten gesprochen wird, bezieht sich das allerdings zumeist auf digitale Anwendungen. So fand am 4. Juli 2023 eine Podiumsdiskussion zum Thema Gamification statt, organisiert vom Social Design Forum im Spielzeugmuseum im Rahmen des Digital Festivals Nürnberg. Christoph Deeg, Berater für Transformative Gamification, stellte dort jedoch klar: „Es geht um Prozesse, nicht um Software.“ Und der Spieleforscher Jens Junge verwies auf Platon und Maria Montessori, die bereits spielerische Aspekte in ihre Pädagogik einbanden. Denn es ist ein sehr altes Prinzip, Menschen mit spielerischen Mitteln zu aktivieren.
Gemeinhin wird Gamification definiert als Verwendung von Spielelementen in einem spielfremden Kontext, muss sich also keineswegs auf digitale Medien und Kanäle beschränken. Ein paar Beispiele: Anbieter wie twelve or higher setzen auf Teamentwicklung mit Pen-and-Paper-Rollenspielen, Karriere Kick verwendet Tischfußball für Recruiting-Events, und Lego bietet Sets zur spielerischen Ideenfindung und Strategieentwicklung von Unternehmen an.
Der Ernst des Spielens
Bereits die Erfindung von Monopoly basierte auf der Idee von Gamification – wobei es den Begriff damals noch nicht gab. Als Lizzie Magie 1903 das von ihr als The Landlord’s Game bezeichnete Spiel entwickelte, ging es ihr darum, die Folgen von Bodenspekulation anschaulich zu machen. Und schon 1780 wollte Johann Hellwig mit dem Kriegsspiel seinen Schülern an der Braunschweiger Pagenschule die Grundlagen von Strategie und Taktik beibringen. Zwei Beispiele für Spiele, die dabei helfen sollten, komplexe Prozesse wie Ökonomie und Krieg besser zu verstehen. Mittlerweile haben sich Lern- und Planspiele als besonderes Genre sogenannter „serious games“ herausgebildet.
So wird die Blackout-Simulation Neustart, die von Till Meyer, Herbert Saurugg und Nicole Zeller für die Österreichische Gesellschaft für Krisenvorsorge entwickelt wurde, ebenso bei Schulungen wie für PR-Zwecke eingesetzt. Die Spielenden müssen dabei in Echtzeit einen kommunalen Krisenstab koordinieren, der die Folgen eines flächendeckenden Stromausfalls bewältigen soll. „Spiele können immens gut sogenanntes Systemwissen vermitteln. Es geht um Abläufe und Prozesse, Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und Konsequenzen“, erklärt Spieleautor Meyer. Die Kampagne #wirfuerbio nutzt ebenfalls spielerische Elemente, um Wissensvermittlung mit PR zu verknüpfen. Die Rätsel und Puzzles der Abfallbox sollen an Schulen und in der Öffentlichkeit für Mülltrennung und die Funktion der Biotonne sensibilisieren.
Gamified Marketing
Spiele funktionieren sowohl bei organisationsinternen Bildungsmaßnahmen als auch in der Außenkommunikation, denn Spielen aktiviert, vermittelt Wissen und erzeugt positive Gefühle. Mithilfe dieser Anknüpfungspunkte verfolgt Gamification in Marketing und Werbung drei Ziele: „customer/user engagement“, also Aktivierung durch das Spiel (Mittel) zur Kaufhandlung (Zweck), Generierung von „brand awareness“, d.h. Vermittlung von Wissen über eine Marke, Produkt oder Dienstleistung, Schaffung von Kundentreue, „brand loyalty“, also eine dauerhafte Überzeugung, die zu Wiederholungskäufen bzw. -aufträgen führt.
Den großen Unterschied zu herkömmlichen Methoden des Marketings beschreibt Philipp Reinartz, Gründer und Geschäftsführer der Gamification-Agentur Pfeffermind: „Man hat Spaß bei der Interaktion, und wenn man etwas aktiv und mit Freude macht, werden Inhalte besser behalten. Unsere Kunden nennen uns die Punkte, die wir vermitteln sollen, und wir überlegen uns dann, wie man die in ein Spiel einbauen kann.“
Spiele eignen sich sehr gut, um die Zielgruppe zu mobilisieren und aus dem Sollen ein Wollen zu machen. Roman Rackwitz, Gamification-Designer und Gründer der Agentur Engaginglab, weiß warum: „Menschen suchen Herausforderungen in Spielen, Hobbys, Sportarten – Bereiche, die auf das Überwinden freiwilliger Hindernisse abzielen.“ Spielerische Herausforderungen erzeugen eine intrinsische Motivation, die Menschen aktiviert, und ihre Bewältigung vermittelt die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Nicht immer werden in Gamification-Ansätzen komplette Spiele umgesetzt. Oft werden nur einige Elemente verwendet, die nichtdestotrotz den Spieltrieb anregen. So gilt es bereits als Gamification, wenn Preise bei Gewinnspielen verlost werden. Fluggesellschaften nutzen Spielelemente seit den 1980er für ihre Loyalty-Programme wie Miles & More, z.B. das Freischalten von Leveln und Errungenschaften. Ähnliche Prämienprogramme gehören im Einzelhandel längst zum Standard – wobei hier keine besondere Herausforderung besteht, die zu bewältigen wäre. Stattdessen wird versucht, die Motivation extrinsisch durch Belohnung zu erzeugen, nicht durch engagierte Interaktion.
Auch McDonald‘s ist mit seiner beliebten Monopoly-Aktion wiederholt erfolgreich. Anstatt ein ganzes Spiel durchzuführen, wird hier das Prinzip auf den Aspekt des Sammelns eines Sets an Straßen reduziert. Bei jedem Kauf eines McDonald’s-Produkts erhält man einen Sticker mit einer zufälligen Straße in einer Farbe, und passende Farb-Sets lassen sich dann in Gewinne eintauschen. Hier wird die bekannte Regelmechanik von Monopoly aufgegriffen und in ein Marketingwerkzeug umgewandelt, ohne dass ein komplettes Spiel reproduziert werden muss.
Spielen als multisensorisches Erlebnis
Der Verkaufstrainer Virgil Schmid fordert in seinem Buch Spielend Verkaufen: „Verführung zum Spiel statt plumpe Überredung zum Kauf; Spaß statt Langeweile; unterhaltsame Überraschung statt vorhersehbare Hochglanzwelt.“ Spielerische Marketingstrategien können dabei helfen, dass Werbung nicht als negative Belästigung wahrgenommen wird, die Aufmerksamkeit erzwingt, sondern als eine erfreuliche Einladung, sich mit einem Produkt oder einer Marke auf mehreren Ebenen intensiver zu beschäftigen. „Wer Kunden zum Spielen einlädt, kann ganzheitliche Erlebnisse kreieren, bei denen seine Kunden nicht nur zum Hören und Sehen aufgefordert sind, sondern mit allen Sinnen einbezogen werden,“ erklärt Schmid.
Haptische Werbung bietet einen hervorragenden Ausgangspunkt, um solch ein multisensorisches Erlebnis mit analogen oder hybriden Spielideen herauszuarbeiten. Reinartz weist darauf hin: „Analoges Spielen hat eine haptische Qualität durch die Bandbreite verschiedener Materialien, die eingesetzt werden können.“ Diese Bandbreite an Materialien ist gerade auf dem Werbeartikelmarkt enorm. Pfeffermind hat z.B. ein Print-and-play-Spiel zur Cybersecurity für Bosch entwickelt, das so konzipiert ist, dass es überall auf der Welt ausgedruckt und mit gängigen Büromaterialien gespielt werden kann.
Spielort und Gemeinschaft der Spielenden
Laut Gamification-Experte Reinartz eignen sich analoge Spiele besonders gut, wenn man Gemeinsamkeit schaffen will, z.B. bei Team-Events oder wenn sie an einen spezifischen Ort gebunden sind, wie z.B. in Museen. Für das haptische Marketing bedeutet das, dass sich die Kunden einer Marke über gamifizierte Kampagnen in der Gemeinschaft der Spielenden als Community konstituieren können und dass sich analoge Gamification-Ansätze für Ladenlokale, Messen, Events und Promotion-Aktionen im öffentlichen Raum gut eignen, da diese von ihrer Präsenz leben.
Die Kinderarche Sachsen etwa hat auf ihrer 30-jährigen Jubiläumsfeier ein selbstentwickeltes Spiel eingesetzt, das als roter Faden diente, um durch das Programm zu führen und das Publikum, unter dem auch Politiker:innen und Unterstützer:innen waren, spielerisch einzubinden. Bei dem Spiel muss man diverse Aufgaben lösen und Quizfragen zu Kinderrechten beantworten. Barbara Gärtner, Fachbereichsleitung Kindertagesstätten, betont: „Beim Spiel haben wir die pädagogische Einbindung in die Gemeinschaft. Unser Spiel ist kooperativ. Wir wollten nicht, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Alle arbeiten gemeinsam an einer Aufgabe.“ Mit dem kooperativen Brettspiel, das von Cartamundi gedruckt wurde, lassen sich damit über die Veranstaltung hinaus, Wissensinhalte und die Werte der Organisation als physisches Produkt verbreiten.
Haptik mit digitaler Technik
Spiele mit haptischen Elementen sind attraktiv, weil Menschen nicht nur vor dem Bildschirm sitzen wollen, so Pfeffermind-Chef Reinartz: „Escape Rooms z.B. kommen aus dem Bereich der digitalen Pointand-Click-Adventures, die dann aber in die reale Welt übertragen wurden und dort sehr erfolgreich sind. Leute wollen etwas anfassen.“
Dieses Bedürfnis nach haptischem Erleben kann auch dann zum Tragen kommen, wenn das eigentliche Spiel digital ist, wie Othmar Fetz, Geschäftsführer der Softwarefirma dMAS, feststellt. Sein Unternehmen entwickelt unter dem Label Gamify digitale Spielkonsolen für Messestände. Hier entfaltet sich die Multisensorik über die physische Präsenz und die haptische Qualität der Hebel und Knöpfe: Jeder will auf einen großen, roten Buzzer draufhauen. Es gibt einen Aufforderungscharakter von Objekten, eine psychologische Anziehung, etwas anzufassen. Auch die Akustik ist wichtig. Dieses Klickklack haben wir bewusst an Arcade-Automaten angelehnt. Die Leute kennen das aus ihrer Kindheit.“
So wird ein Retro-Feeling bedient, das an eine Zeit erinnert, als Computerspiele noch nicht überwiegend allein zu Hause gespielt wurden. Gleichzeitig hilft die digitale Anwendung, Leads direkt zu erfassen. Digitale Technik und sinnliches Erlebnis lassen sich so in hybriden Gamification-Ansätzen zusammenbringen.
Auch Pfeffermind verknüpft bei einigen Escape-Games, die die Gamification-Agentur für ihre Kunden entwickelt hat, die physische Präsenz des analogen Spielens mit den Möglichkeiten, die die moderne digitale Technik bereitstellt. So hat das Team von Philipp Reinartz auf der Burg Mildenstein Sensoren in ein riesiges Schachbrett eingebaut, die darauf reagieren, wo man hintritt. RFID-Chips in Gegenständen erlauben, dass ihre Position zu einander erkannt wird, wenn man mit diesen hantiert, sie bspw. auf eine bestimmte Weise ordnen muss, um ein Rätsel zu lösen. Und auch mit AR-Tools lassen sich virtuelle und materielle Welt verknüpfen.
Ein AR-Game, das man über einen QR-Code auf der Produktverpackung startet, hat etwa Pringles in einer crossmedialen Kampagne zur Fußball-WM 2022 entwickelt. Über die physische Pringles-Packung gelangte man in das digitale Spiel, in dem man Sammelfiguren freischaltete, die dann als physische Objekte, gewonnen werden konnten. Andreas Billker, Senior Market Activation Manager Pringles D-A-CH, erklärt diese Verzahnung von digital und analog: „Mit dem AR-Game erweitern wir die Product Experience, die der Konsument hat. Mit den Figuren, die wir bei AR you ready? als Gewinn angeboten haben, wollten wir einen Sammelmechanismus in Gang setzten. Wir hatten zeitweise überlegt, NFTs daraus zu machen, aber das relativ schnell verworfen. AR-Kampagnen brauchen etwas Haptisches, damit sie funktionieren. Bei AR you ready? war es unser Produkt, aber das kann genauso gut ein Werbeartikel sein. Der Werbeartikel ist dann sozusagen die Eintrittskarte für das digitale Erlebnis.“
Eine solche Eintrittskarte mit erweitertem Produkterlebnis ist auch z.B. das Quietscheentchen in Schaffneruniform, das die Deutsche Bahn für Rubberduck’s Journey einsetzt. Hier startet man über den QR-Code auf dem Entchen ein Browser-Game. Das gebrandete, haptische Spielzeug erwacht sozusagen digital zum Leben. Cyberwear gewann mit diesem zusammen mit dem Entenlieferanten mbw konzipierten Projekt einen Publikumspreis bei den Promotional Gift Awards 2023.
Perspektive für die haptische Werbung
Viele kreative Menschen arbeiten daran, die Möglichkeiten analoger und hybrider Gamification-Ansätze zu erweitern. Das Potenzial ist keinesfalls erschöpft, erst recht, wenn man bedenkt, welche Optionen sich auftun, wenn es gelingt, haptische Werbung in spielerische Marketingkampagnen einzubinden. Das reicht vom klassischen Kugelschreiber, der dazu benutzt wird, Rätselhinweise zu notieren, Karten zu zeichnen oder Codes zu lösen, über Brettspiele, die eine Marken-Story erzählen, bis hin zu Sonderanfertigungen von haptischem Spielmaterial.
Es muss dabei nicht immer gleich die Dimensionen der Red-Notice-Kampagne annehmen. Auch im kleineren Rahmen kann Gamification das Branding eines Unternehmens oder einer Organisation durch die Materialität der Gegenstände unterstützen – insbesondere, wenn diese als Werbeartikel mit nach Hause genommen werden, wo sie die Erinnerung an ein multisensorisches Erlebnis wachhalten.
// Andreas J. Haller
Fotos: WA Media (2), iStockphoto.com (1), Kinderarche Sachsen (2), Netflix (1), Pexels/Kevin Malik (1), Pfeffermind (1), unsplash/Gabriel Tovar (1), wirfuerbio (1)