Krankenkassen gelten nicht gerade als besonders sexy. Der AOK-Bundesverband, Interessensvertretung und Dienstleister der elf selbstständigen AOKs im Bundesgebiet, hat im August 2024 jedoch eine Kampagne zum Thema Hautkrebsvorsorge gestartet, für die er mit Amorelie, einem Online-Versandhandel für Erotikspielzeuge, zusammenarbeitet. Das Kartenspiel Skintimacy – Das verführerische Spiel mit der Haut richtet sich an Paare und verbindet intime Berührungen mit Gesprächen über Hautkrebs.

HAPTICA® Magazin sprach mit Steve Plesker, Geschäftsführer Markt/Produkte beim AOK-Bundesverband, über die ungewöhnliche Kooperation, die Herausforderungen der Markenkommunikation beim Themenkomplex Gesundheit-Krankheit, die Rolle von Humor und Irritation und den Einsatz von Werbeartikeln.

Wie kam es zu der Idee für das Kartenspiel Skintimacy und zu der Partnerschaft mit Amorelie?

Steve Plesker

Steve Plesker: Der Ausgangspunkt war unsere aktuelle Kampagne zum Thema Hautkrebs und Sonnenschutz. Wir haben uns gefragt, wie wir sie unter PR-Gesichtspunkten erweitern können. Darüber haben wir mit Scholz & Friends gesprochen, und sie haben uns unterschiedliche Ideen präsentiert. Eine davon war ein Kartenspiel, bei dem Menschen in Beziehungen ihre Körper gemeinsam erkunden und sich dann an Stellen, die man selbst nicht sieht, auch mal die Leberflecke anschauen. Wir dachten, dass es perfekt wäre, wenn man das zusammen mit Amorelie umsetzt, die auch sofort von der Idee begeistert waren.

In mühseliger, kleinteiliger Arbeit ist dann über Monate hinweg dieses Spiel entstanden. Das ist gar nicht so einfach und ein bisschen was anderes, als eine Werbeanzeige zu gestalten. Am Anfang standen Überlegungen, wie so ein Spiel funktionieren muss, damit es wirklich Spaß macht und möglichst alle Paare, gleich welcher Altersgruppe und welchen Lebensentwurfs, das miteinander erleben wollen und dabei auch noch etwas lernen. Nicht einfach zu beantworten war auch die Frage, wie das Ganze gestaltet werden soll. Wollen wir echte Bilder von Haut und von sexuellen Momenten zeigen oder gehen wir einen anderen Weg? Wir haben uns für Illustrationen entschieden, die nicht hypersexualisiert sind. Wir wollten kein pornografisches Spiel machen, gleichzeitig aber die Möglichkeit nutzen, mit dem Thema anders umzugehen und einen Hingucker zu schaffen. So sind wir dann zu den Illustrationen gekommen, die von Viktoria Cichon umgesetzt wurden.

Warum setzen Sie beim Thema Hautkrebsvorsorge in diesem Fall mit dem Kartenspiel auf ein physisches Produkt?

Es geht schließlich um ein physisches Thema: Den eigenen Körper und den Körper des Partners zu entdecken. Gerade wenn wir an eine Situation wie ein Liebesspiel denken, ist das ein intimer Moment, da wollten wir nicht, dass irgendein Bildschirm leuchtet oder man mal wieder zum Handy greifen muss. Es sollte etwas sein, das man im wahrsten Sinne des Wortes anfassen kann.

Der andere Punkt ist, und das gilt natürlich generell für Werbeartikel, dass physische Dinge in der Regel bleiben. Das macht einen Unterschied, gerade bei solch einem Spiel. Wenn es Spaß macht und lustig ist, dann ist das kein Wegwerfartikel, sondern etwas, das man in die Schublade packt – vielleicht zu den anderen Spielzeugen, die man hat.

Welche Bedeutung haben Markenpartnerschaften für die AOK?

Wir gehen Partnerschaften auf unterschiedlichsten Ebenen ein, sowohl Markenkooperationen, aber auch stark inhaltlich getriebene Kooperationen mit politischen Zielen.

Für das Projekt „Schau hin!“ kooperieren wir z.B. mit ARD, ZDF und dem Bundesministerium für Familie und Jugend. Da geht es darum, Familien mit Kindern über Medienkonsum aufzuklären. Auch mit dem ADFC, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club, haben wir lange unter dem Titel „Mit dem Rad zur Arbeit“ zusammengearbeitet. Bei solchen Projekten setzen wir eher auf klassische Infomaterialien, Webinare und Co.

Die Partnerschaft mit Amorelie ist besonders, weil sie aus dem Marketing heraus entstanden ist. Dass wir uns ein physisches Produkt ausdenken und uns einen Kooperationspartner dazu suchen, ist eher ungewöhnlich. In dem Fall hat es Sinn ergeben, weil wir das Thema auf eine andere Art und Weise inszenieren wollten und hier der Partner etwas addiert, das wir selber nicht haben. Die AOK ist keine Marke, die im Bereich Sexualität eine besondere Kompetenz hat. Ein weiterer Punkt ist, dass Amorelie die Distribution anders durchführen kann. Gesetzliche Krankenkassen wie die AOK dürfen nicht einfach den Versicherten ein Kartenspiel schicken. Die Alternative wäre eine Landingpage, über die das Spiel bestellt werden kann. Aber das wäre mit großem Aufwand und auch großen Kosten verbunden. Im Fall von Amorelie ist es das Tolle, dass der sexuelle Kontext bereits durch die Bestellung gegeben ist und das Spiel dieser einfach beigelegt werden kann. So entstehen keine zusätzlichen Versandkosten, was auch unter Umweltgesichtspunkten eine gute Sache ist. Zusätzlich stellen wir das Spiel allen Interessierten zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Wie gehen Sie im Marketing mit dem schwierigen Themenkomplex Krankheit und Gesundheit um?

Das Themenspektrum im Bereich Gesundheit ist extrem breit und geht uns alle etwas an. Z.B. hat Hautkrebs mit 230.000 Neuerkrankungen jedes Jahr eine super hohe Relevanz.

Wir haben vor einigen Jahren einen neuen Weg gewählt, über solche Themen zu reden, und das ist Humor. Das hat uns in doppelter Hinsicht geholfen: Humor macht Werbung generell unterhaltsamer und gerade im Kontext von Gesundheit bzw. Krankheit nimmt es den Themen die Schwere, ohne sie zu bagatellisieren. Unsere erste große Kampagne mit diesem Ansatz war „Deutschland, wir müssen über Gesundheit reden“. Das war eine Kampagne, bei der Leute in komplett unpassenden Momenten auf eine sehr offene Art und Weise, z.B. über Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen o.Ä., reden. Sie gehört zu den erfolgreichsten Kampagnen in der Geschichte der AOK, weil sie so überraschend anders war.

So machen wir das auch jetzt beim Thema Hautkrebs. Wir haben nicht nur das Spiel, sondern auch zwei Filme dazu produziert. In einem sehen wir zwei Rettungsschwimmer im Baywatch-Stil, aber sie achten gar nicht auf die Menschen im Wasser, sondern auf diejenigen, die sich sonnen. Man sieht, wie die beiden in Superzeitlupe den Strand entlang sprinten und dann einen älteren Herrn, der schon leicht rot ist, aus der Sonne rausziehen und ihn schnell eincremen. Das ist humorvoll, aber in der Sache nehmen wir das Thema sehr ernst.

Gesundheit ist unsere Kernkompetenz. Wir nennen uns nicht umsonst „AOK – Die Gesundheitskasse“. Aufklärung ist daher ganz wichtig für uns. Wir haben gemerkt, dass Präventionsthemen super geeignet sind für die Markenkommunikation. Ehrlicherweise hätte ich das zuerst selbst nicht gedacht, dass es die Marke stärkt, wenn wir über Krebsvorsorge reden. Aber wir holen die Menschen damit ab. Sie sehen es positiv, dass wir uns solcher Themen annehmen, genau das wiederum ist positiv für die Marke. Man muss es eben auf eine überraschende und andersartige Weise machen.

Die ersten Reaktionen auf Skintimacy zeigen, dass viele Menschen das cool und irritierend anders finden. Wir nutzen Kreativität und den Überraschungseffekt, um ein unschönes aber enorm wichtiges Thema wie Hautkrebs, mit dem man sich nicht unbedingt aktiv auseinandersetzen möchte, bewusst zu machen. Wir wollen mit der Aktion darauf aufmerksam machen, dass es Hautkrebs-Screening-Angebote gibt und diese genutzt werden sollten. Aber wir kommunizieren auch: Wenn ihr einen Leberfleck entdeckt, der auffällig aussieht, geht bitte sofort zum Arzt!

Wie gehen Sie mit Ihren Maßnahmen auf verschiedene Zielgruppen ein?

Grundsätzlich wollen wir die gesamte Bevölkerung in Deutschland mit unseren Botschaften erreichen. Das hängt damit zusammen, dass wir mit einem Marktanteil von rund 37% für die breite Bevölkerung stehen und eine echte Volksmarke sind. Trotzdem muss man in der Ansprache der Zielgruppen differenzieren. Nicht jeder Mensch ist gleich, nicht jeder Mensch kann mit der gleichen Ansprache umgehen.

Humor funktioniert erfreulicherweise in jeder Zielgruppe, aber nicht bei jedem Thema. Im Kontext Depression z.B. ist Humor möglicherweise nicht der richtige Ansatz. Da braucht man Fingerspitzengefühl und eine gewisse Sensibilität, weil es in dem Fall so wirken könnte, als würde man sich über Depressionen oder Betroffene lustig machen und das Thema sowie deren Sorgen und Ängste nicht ernst nehmen.

Neben der breiten Bevölkerung, sind Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 30 Jahren eine weitere wichtige Zielgruppe. Bei ihr wählen wir eine etwas andere Ansprache und auch andere Kanäle, sind sehr viel stärker digital und auf Social Media unterwegs. Die Themen sind im Zweifel die gleichen, aber Tonalität und Darstellungsweise sind anders, einfach sehr viel jünger. Bei der Zielgruppe der Zugewanderten wiederum geht es oft eher darum, grundlegendes Wissen über das deutsche Gesundheitssystem zu vermitteln. Unsere Marketingaktivitäten sind eher themenspezifisch und teilweise dann noch auf Alter, Herkunft und Sprachbarrieren der Zielgruppen ausgerichtet.

Welche Rolle spielt haptische Werbung und Merchandising im Marketing der AOK? Setzen Sie spezifische Artikel für die verschiedenen Zielgruppen ein?

Merchandising und Werbeartikel spielen für uns auf unterschiedlichen Ebenen weiterhin eine große Rolle. Auf Bundesebene nutzen wir gern Produkte mit Bezug zu einem konkreten Kampagnenthema oder zur Lebensrealität der Zielgruppe.

Im Jugendmarketing z.B. haben wir zum Thema Hörschädigung ein tolles und sinnvolles Giveaway eingesetzt: ein kleiner, wiederverwendbarer Gehörschutz, den man branden kann. Der Artikel ist preiswert und passt total in die Zielgruppenrealität im Festivalsommer.

Genauso haben wir sehr erfolgreich vor ein, zwei Jahren im Rahmen einer Bewegungskampagne gebrandete Socken unters Volk gebracht. Die haben reißenden Absatz gefunden, innerhalb weniger Tage wurden Zehntausende von Socken verteilt. Ein beliebter Artikel sind auch unsere Fitnessbänder – einfach herzustellen und zu branden und im Kontext Gesundheit gut zu erklären, da der Gesundheitsnutzen unmittelbar ersichtlich ist.

All diese Artikel sind interessant, weil sie zwei Vorteile kombinieren: Sie sind etwas Physisches, das bleibt, und sie haben einen Nutzwert. Es ist uns wichtig, dass wir keine Wegwerfartikel einsetzen. Außerdem achten wir darauf, dass die Produkte einen klaren Gesundheitsbezug haben, dazu nachhaltig hergestellt und verpackt sind, also ohne unnötige Umverpackung, die die Kosten in die Höhe treibt und unter Umweltgesichtspunkten fragwürdig ist.

Werbeartikel sind auf der regionalen Ebene noch sehr viel relevanter als auf der Bundesebene. Die elf regionalen AOKs – das sind elf eigenständige Körperschaften – betreiben deutschlandweit über 1.000 Geschäftsstellen. Da kommen von Jung bis Alt alle möglichen Versicherten vorbei, und es gibt dort eine große Bandbreite an Giveaways von Kindersachen bis hin zu den klassischen Heftpflastern.

Was unterscheidet Skintimacy von den Werbeartikeln, die Sie sonst einsetzen?

Wir haben mit dem AOK-Verlag ein eigenes Unternehmen, das sich zentral um den Einkauf von Werbeartikeln, das Branding und die Logistik kümmert, inkl. eigenem Katalog. In der Regel ist es so, dass der AOK-Verlag den einzelnen AOKs vorkonfektionierte Artikel anbietet, die auf dem Produkt und/oder auf der Verpackung gebrandet sind.

Im Fall von Skintimacy war das ein bisschen anders als sonst. Wir haben dieses Produkt komplett selbst entwickelt, von jeder einzelnen Karte bis hin zur Umverpackung. Das ist nicht der übliche Weg und dementsprechend auch kostenintensiver als andere Giveaways, bei denen man eigentlich nur noch die Farbe der Verpackung auswählt und ein Branding aufbringt.

Aber das Kartenspiel hat auch einen anderen Zweck und ist eben Teil einer PR-Kampagne. Neben den Menschen, die wir mit dem Spiel physisch erreichen wollen, geht es natürlich auch darum, mediale Berichterstattung für das Thema zu generieren. Wir wollen dafür sensibilisieren, wie wichtig Krebsvorsorge ist. Und das schaffen wir mit dieser interessanten Kooperation und dadurch, dass wir etwas irritierend Anderes, etwas Neues, machen. Über einen normalen Werbeartikel würde kaum jemand schreiben. So hat aber bereits die FAZ berichtet, bei der Süddeutschen Zeitung ist Skintimacy sogar auf die Titelseite gekommen und heute darf ich unsere Kampagne im HAPTICA® Magazin vorstellen.

Mit Steve Plesker sprach Andreas J. Haller.

Bildquelle: AOK