
Erwachsene tragen Ninja Turtles-T-Shirts oder gar Paw Patrol-Sneaker, sie gehen mit Hello Kitty-Handtäschchen shoppen, spielen das Pokémon Trading Card Game und freuen sich über Haribo-Fruchtgummis mit Super Mario-Branding.
Die Zielgruppe, die sich mit typischerweise Kindern zugeschriebenen Tätigkeiten und Marken beschäftigt, wird mit dem englischen Kofferwort „Kidults“ bezeichnet – eine Zusammensetzung aus den Wörtern „kids“ (Kinder) und „adults“ (Erwachsene). Der Marketingtrend surft nicht nur auf der Retro-Welle, sondern appelliert an den Spieltrieb im Menschen und manifestiert sich in zahlreichen haptischen Erfahrungen.
Werden die Menschen immer kindischer? Den Eindruck könnte man ja bekommen, wenn ein Film wie Barbie im Sommer letzten Jahres eine regelrechte Manie um eine Anziehpuppe auslöst und erwachsene Menschen dazu treibt, sich mit einem Barbie-Badeanzug oder Ken-Cowboy-Stiefeln einzukleiden. Doch übersieht solche Kritik, dass auch der erwachsene Menschen Formen des kindlichen Spiels immer schon selbstverständlich in sein Leben integriert hat.
Auf der diesjährigen Spielwarenmessen in Nürnberg stand das Phänomen der sogenannten Kidults unter dem Motto „Life’s a Playground“ im Fokus und machte anschließend in den deutschen Medien die Runde. Dabei ist der Trend schon seit einigen Jahren zu beobachten. Da Kinder immer früher von analogem Spielzeug zu digitalen Medien wechseln, sucht die Spielwarenbranche neue Zielgruppen und richtet den Blick nun verstärkt auf Erwachsene. Laut Zahlen aus den USA sorgen Erwachsene, die Spiele und Spielzeug für sich selbst kaufen, bereits für 25% des Umsatzes in der Spielwarenindustrie (Quelle: Data Bridge Market Research).
Für Dr. Karin Falkenberg, Spielforscherin und Direktorin des Nürnberger Spielzeugmuseums, ist das nur konsequent: „Wir spielen von dem Moment an, in dem wir geboren werden, bis zu dem Moment, in dem wir sterben. Wir sind alle spielende Menschen.“ Im Anschluss an die Idee des „homo ludens“, dem „spielenden Menschen“, die der niederländische Anthropologe Johan Huizinga in den 1930er Jahren formulierte, versteht Falkenberg das Spielen als ein „Urphänomen der Menschheit“. Kinder lernen die Welt und sich selbst im explorativen Spiel, dem Fantasiespiel, dem Rollenspiel, dem Konstruktionsspiel und dem Regelspiel kennen und setzen diese Erfahrungen im Erwachsenenalter in anderer Form weiter fort: vom Kind, das mit Klötzchen Türme baut, zu den Entwürfen des Architekten, vom Kind, das beim Verkleiden Rollen ausprobiert, zum Erwachsenen, der in Beruf und Privatleben mühelos zwischen unterschiedlichen sozialen Rollen wechselt, von den Regeln beim ersten Memory zu den Regeln des sozialen Miteinanders.

Der Barbie-Hype 2023 hat eine Reihe an Modekollektionen und Merchandisingartikeln hervorgebracht, die Jung und Alt gleichermaßen begeistern.
Den Begriff „Kidults“ hält Falkenberg daher für eine Marketing-Konstruktion, die eine verschüttete Wahrheit wieder sichtbar macht: „Das ist ein Begriff mit dem man zu Erwachsenen sagt: ‚Ihr dürft auch spielen.‘“ Früher haben sich erwachsene Männer mit ihren Modelleisenbahnen auf staubigen Dachböden oder in dunkle Keller zurückgezogen, heute präsentieren Erwachsene ihre Lego-Sets auf Social Media und stellen Actionfiguren im Wohnzimmer aus. „Mittlerweile leben wir in einer sehr viel transparenteren, diverseren und auch akzeptierenderen Gesellschaft, in der das Spielen wieder ans Tageslicht kommen kann“, so Falkenberg. Das Phänomen der Kidults zeugt also nicht von Infantilisierung, sondern ist das Symptom einer gesellschaftlichen Veränderung, die dem Spieltrieb wieder mehr Raum gibt und das Spielen positiv besetzt.
Nerd-Kultur und Fandom
Die kulturelle Veränderung, die Erwachsenen das Spielen erlaubt, ist auch das Resultat einer veränderten Mediennutzung. Digitale Games sind mit einem geschätzten weltweiten Umsatz von ca. 250 Mrd. US-Dollar zu einem Leitmedium der Gegenwart geworden (Zahlen für 2022, Quelle: Fortune Business Insights). Allein in Deutschland gibt es mehr als 34 Mio. Gamer (Quelle: Statista), ein klarer Hinweis, dass das Spielerische und Nerdige gesellschaftsfähig geworden ist. Um das aufzugreifen hat die Hamburger Werbeagentur Jung von Matt vor vier Jahren den Ableger Jung von Matt Nerd gegründet, eine Vermarktungsberatung für digitale Popkultur mit Themen wie Gaming, Fantasy, Superhelden, Anime usw. Deren CEO, Toan Nguyen, beschreibt, wie sich diese Veränderung des Zeitgeists am Wandel des kulturellen Geschmacks festmachen lässt: „Es gab eine Zeit, da waren Comics, Science-Fiction und Superhelden-Kostüme was für Loser. Heute ist das anders. Die Gründe dafür sind mehrschichtig, aber für die Nerd-Kultur war wahrscheinlich die TV-Serie Big Bang Theory ein Katalysator. Sie zeigt liebevolle Nerds, die Konsolen und ComicCons lieben. Auf einmal waren Nerds Rockstars, weil sie superschlau waren, und wer schlau war, wurde reich. Eine der Gallionsfiguren aus dem echten Leben war Super-Nerd Elon Musk, der mal als coolste Sau auf dem Planeten galt.“
Viele Kidults sind als Erwachsene Fans von Comics, Filmen, Spiele, die sie bereits als Kinder konsumiert haben. Dass die Faszination für fantastische Welten so lange anhält, erklärt Nguyen mit Eskapismus und Nostalgie: „Diese Serien und Filme saugen einen ein und lassen einen für einen Moment die Alltagssorgen vergessen. Dieser Eskapismus kann sogar so weit gehen, dass manche Menschen sich an ihr Kindsein erinnern, in der sie das erste Mal mit diesen Franchises in Berührung gekommen sind. Diese Serien sind also kleine Schutzinseln und manchmal auch kleine Zeitreisemaschinen. Das kann für viele Menschen eine heilsame Wirkung haben, weil die eigene Kindheit eine Zeit ist, in der sich viele Menschen geliebt und geborgen gefühlt haben.“

Le Creusets Harry-Potter-Topf lässt sich damit erklären, dass viele Hogwarts-Fans die Schulbänke mittlerweile verlassen und eigene Haushalte gegründet haben.
So erklärt sich, warum sich Erwachsene T-Shirts mit „Töröö“-Aufdruck kaufen oder der Wanderausrüster Bergmensch eine Heidi-Kollektion auf den Markt bringt. Ähnlich verhält es sich mit der erfolgreichen Buch- und Hörspielreihe Die drei ???, die mittlerweile Kultstatus genießt und das nostalgische Bedürfnis bei vielen erwachsenen Fans erfüllt. Birgit Tappe, Senior Marketing Managerin beim Franckh-Kosmos Verlag, wo die Detektivabenteuer erscheinen, führt aus: „„Für Kosmos ist die Zielgruppe der Kidults sehr relevant, da die Marke Die drei ??? mit ihrem Kultfaktor für genau diese nostalgische Erinnerung an die Kindheit steht und eine sehr große generationenverbindende Kraft hat. Unsere Marktforschungen haben gezeigt, dass viele Erwachsene der Marke treu geblieben sind und sich ihr emotional stark verbunden fühlen. Wir sprechen diese Zielgruppe direkt an, um sie auf Produkte und Veranstaltungen aufmerksam zu machen, die speziell für die Bedürfnisse der „Kidults“ konzipiert wurden.“ Tappes Kollegin Susanne Stegbauer, Senior Produktmanagerin bei Kosmos, ergänzt: „Wir beobachten die erwachsenen Fans sehr genau und bieten ihnen verschiedene Formate an. So gibt es zum Beispiel beliebte Klassiker-Fälle als Graphic Novels, bei den Rocky Beach Crimes ermitteln Fan-Favoriten wie z.B. Tante Mathilda oder Kommissar Reynolds, und es gibt die Graphic Novel Rocky Beach, die erzählt, was passieren könnte, wenn Die drei ??? Justus, Peter und Bob erwachsen wären.“
Fandoms, die für das Phänomen der Kidults so wichtig sind, haben abseits der audiovisuellen Medien einen ausgeprägten haptischen Aspekt. Merchandising- und Lizenzprodukte von Star Wars, Marvel-Superhelden oder Harry Potter finden reißenden Absatz. „Ich beschreibe diese Fan-Communities immer als emotional stark involvierte Interessens- und Glaubensgemeinschaften“, erklärt Nguyen. „Es hat also ein bisschen was von Religion, und diese haptischen Produkte sind nichts anderes als Symbole und Artefakte. Jede Religion hat so etwas. Man kann das auch umdrehen und sagen: Das Christenkreuz war eines der ersten Merchandising-Produkte der Welt.“ Durch haptisch greifbare Gegenstände erfahren Fans die physische Präsenz des Verehrten.

Hulk, Spiderman und Pac-Man: Die Welt der Superhelden und Computergames ist längst keine kulturelle Nische mehr.
Diese Präsenz der Produkte erlaubt Erwachsenen zudem eine Transformation des Spiels, die sich vom kindlichen Spiel unterscheidet. „Sammeln ist eine Legitimierung, wie man weiterhin spielen kann,“ erklärt Falkenberg. Wie Sammelleidenschaft für spielerische Marketingaktionen genutzt werden kann, zeigen z.B. die Monopoly-Aktionen von McDonald’s oder die Stickerbilder zu großen Fußballturnieren. Und auch wenn es mit NFTs mittlerweile einzigartige, digitale Sammelstücke gibt, haben physische Objekte durch ihre Materialität eine ganz andere Verfügbarkeit. Sie lassen sich anfassen, und gerade diese haptische Erfahrung kann dann wiederum den Spieltrieb befeuern, weil sie etwas bietet, das der digitalen Welt fehlt. Museumsdirektorin Falkenberg führt aus: „Der spielerische Aspekt und das Phänomen der Kidults hat durch die Pandemie einen großen Schub bekommen. Man saß die ganze Zeit vor dem Bildschirm und brauchte dann irgendwas, das nicht digital war. Erwachsene haben sich Puzzles oder Brett- und Kartenspielen zugewandt. Wir brauchen den Umgang mit den Händen und dem eigenen Körper.“
Zielgruppenansprache

Erwachsene identifizieren sich mit den Heldinnen und Helden ihrer Kindheit und wollen das auch zeigen. Hier ein T-Shirt mit Heidi-Motiv des Outdoorausstatters Bergmensch.
Unternehmen können mit ihren Marken den Spiel- und Sammeltrieb der Kidults, aber auch Fandom und Nerd-Kultur gezielt ansprechen – auch und gerade mit haptischen Produkten. Allerdings bedarf es dafür eines Umdenkens in der Markenführung: „Ich denke, dass viele Marken den Fehler machen und erwachsene Menschen mit erwachsener Kommunikation ansprechen wollen. Also sehr ernst, sehr bedeutungsschwanger oder sehr minimalistisch, funktional“, erläutert Nguyen. Mit seiner Agentur Jung von Matt Nerd geht er den entgegengesetzten Weg: „Wer das innere Kind seiner Kundinnen berühren will, sollte spielerischer sein, mehr Leichtigkeit und Freude an den Tag legen. Vor allem in Zeiten von Polykrisen wie jetzt. Und was natürlich immer hilft: Kooperationen, Lizenz- und Markenpartnerschaften mit Serien, die wir als Kinder schon gut fanden.“
Insbesondere Dinge, die Menschen an ihre Kindheit erinnern und die sie daher mit positiven Erinnerungen wie Unbeschwertheit und Geborgenheit verbinden, können also einen Haben-Wollen-Effekt triggern, umso mehr, wenn es sich um limited Editions oder Collectibles handelt. Kidults sind empfänglich für Spielerisches, Fantastisches oder Niedliches, wollen aber trotzdem nicht mit Kindern gleichgesetzt werden, erklärt Falkenberg: „Die Spielwarenmesse hat eine Studie in Auftrag gegeben, in der untersucht wurde, was erwachsene Menschen, die Spielzeug kaufen, wollen. Es gibt z.B. mittlerweile Plüschtiere, die sich an Erwachsene richten, und die kaufen das auch total gerne. Wenn man einer Freundin einen Plüschblumentopf schenkt, den sie nicht gießen muss, weil man weiß, dass die den ganzen Tag arbeitet, dann ist das eine spaßige Idee. Aber diese Kunden wollen dazu nicht in Läden für Kinder gehen oder das in der Baby Abteilung kaufen, wo daneben die Windeln liegen.“
Diese Differenzierung gilt auch für Werbeartikel und Merchandising, wie Kirstin Kreppel, Head of Entertainment & Licensing bei Kosmos, am Beispiel der Drei ??? ausführt: „Im Bereich Brand Licensing erlaubt uns die Dachmarke Die drei ??? eine gezielte Ansprache der verschiedenen Zielgruppen. Mit der Marke Die drei ??? Kids können wir Kinderprodukte wie bspw. Schulranzen sehr gut separieren von dem, was wir im Lizenzbereich für jugendliche und erwachsene Fans anbieten. Wir wissen, dass die nostalgischen Fans über die ikonischen Coverdesigns der Klassikerfälle sehr gut angesprochen werden können. Dementsprechend sind die Kollektionen unserer Lizenzpartner wie Spreadshirt oder Thalia so konzipiert, dass sie teilweise die nostalgischen Elemente bedienen oder diese Elemente für ein erwachsenes Publikum neu interpretieren.“ Im Fall der Drei ??? gehören zur Merch-Kollektion neben diversen bedruckten Textilien u.a. auch Schlüsselanhänger in Kassettenform oder Goldbarren mit der Prägung klassischer Covermotive.

Keine reine Kinderei: Auch Erwachsene haben, wie hier auf der Spielwarenmesse Nürnberg 2024, Spaß am Spielen, das als Urphänomen der Menschheit gilt.
Nicht zu vergessen: Kidults sind längst nicht alle gleich. Wer Asterix mag, kann Spiderman doof finden, und umgekehrt. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe, die dem Marketing allerdings ein breites Spielfeld anbietet, um mit clever ausgesuchten (Lizenz-)Produkten und passendem Branding den Spieltrieb zu wecken, nostalgische Gefühle zu erzeugen und so jede Menge positive Emotionen mit der eigenen Marke zu verknüpfen.
// Andreas J. Haller
Bildquellen: Bergmensch (1); Phil Boakye (1); Deichmann (2); Franckh-Kosmos-Verlag (2); Marco Garbi (1); Andreas J. Haller © WA Media GmbH (4); Le Creuset (1); Mbw (1); StayKid (1); Mbw (1); Zara (1)